Die graue Revolution – Der Verlust der Farben im Alltag
Der Herbst naht. Noch einmal leuchtet die Natur in bunten Farben auf, bevor es düster wird. Doch abseits der Natur dominiert Grau: Ob Autos, Möbel, Häuser oder Mode – die sichtbare Welt entfärbt sich. Warum diese optische Monotonie? 76 % aller neu zugelassenen Autos in Deutschland sind grau. Doch es betrifft nicht nur Autos. Die graue Monotonie des Individualverkehrs ist lediglich das sichtbarste Symptom eines Trends, der sich seit Jahren auf viele Lebensbereiche ausweitet. Wir erleben eine ständige Entfärbung der Welt. Fifty Shades of Gray, wohin das Auge blickt: Grau sind Bahnhöfe, Asphaltstraßen, Gartentische, Zäune, Gartentore, Hausfassaden, Fahrräder, Smartphones, Computer, Büros und Anzüge.
Grau als Trendfarbe – Der neue Minimalismus in Mode und Design
Die Farbe des Monats ist Grau. „Ich habe hier eine Graukollektion, da haben Sie 28 Grautöne in jeder Qualität: Mausgrau, Staubgrau, Aschgrau, Steingrau, Bleigrau, Zementgrau...“, erklärt ein Designer. Auch in der Mode nimmt der Anteil von Grautönen seit Jahren zu – von Opalgrau über Achatgrau bis hin zum Farbton Rauchperle. „Die Looks strahlen Ruhe und Harmonie aus, meist einhergehend mit monochromer Farbigkeit von Beige bis Grau“, so die Beschreibung aktueller Trends. Besonders beliebt sind Graukombinationen wie „salt & pepper“. Designer sprechen dabei von „Normcore“, einer Art „radikaler Unauffälligkeit“. Der neue Individualismus trägt heute das Motto: „extrem normal“.
Die emotionale Neutralität von Grau – Eine Farbe ohne Bindung
„Grau sei die traurige Farbe der Welt, in die alle Farben stürzen“, schrieb der Filmemacher und Künstler Derek Jarman. Dennoch hat Grau zahlreiche Anhänger gefunden. Liegt es an der Vernunft, die Grau attraktiv macht, weil man mit dieser Farbe keine Fehler begehen kann? Eigentlich geht es um Gefühle. Grau ist die farbgewordene Unverbindlichkeit - die perfekte Farbe in einer multioptionalen Lifestyle-Welt, die sich nicht festlegen möchte. „Es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus, es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar. Grau ist für Richter – die ideale Farbe für Meinungslosigkeit, Aussagenverweigerung und Schweigen“, beschreibt es der Maler Gerhard Richter.
Grau als Ausdruck von Anonymität und Unbestimmtheit
Doch genau hier liegt der Kern: Grau ermöglicht Anonymität in einer lauten, überladenen Welt. Mit dieser Farbe verweigert man eine Aussage über sich selbst und bewahrt gleichzeitig die Kontrolle darüber. Nach den bunten 80er- und 90er-Jahren ist Grau heute die Farbe der Indifferenz, des Unbestimmten und der Offenheit für verschiedene Interpretationen.
Der verlorene Mut zur Farbe – Ein Kulturwandel im Denken
„Wir verlieren den Mut zur Farbe“, befürchtet der Farbpsychologe, Kulturwissenschaftler und Autor Harald Braem. Farbe ist, so Paul Cézanne, „der Ort, wo unser Gehirn und das Weltall sich begegnen“. Doch dieser Mut zur Farbe scheint zu schwinden und spiegelt damit einen kulturellen Wandel wider, der die Dominanz von Grau weiter verstärkt.
Ein Plädoyer für mehr Farbe – Von grauen Fassaden zu bunten Häusern
An den grauen, nebeligen Küsten Irlands oder Nordenglands streichen Menschen seit Jahrhunderten ihre Häuser in leuchtenden Farben, um den Sinnen Reize zu bieten. „Anstelle des schmutzig-grauen Hauses trete endlich wieder das blaue, gelbe, rote, grüne, schwarze oder weiße Haus“, wünschte sich der Architekt Bruno Taut. Seine Worte sind ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Farbe in unserer Welt. „Wir wollen durch dieses Bekenntnis den Bauherren und Siedlern wieder ein Stück Lebendigkeit und Freude zurückgeben.“